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FLIEßEND

Dr. Jörg Garbrecht, 2009

Die Rauminstallation Fließend (Mixed media, 2009) der uruguayischen Künstlerin Valentina Torrado ist eine Auftragsarbeit zur Premiere der Ausstellungsreihe „Kunst im Foyer“ der Nolde Stiftung Seebüll, Dependance Berlin.Valentina Torrado hat ihre Installation vor dem Hintergrund der aktuellen Ausstellung von Emil Noldes „Ungemalten Bilder“ im Obergeschoß konzipiert und speziell für die räumliche Situation des Foyers der Dependance Berlin entwickelt. Die weiße Box verstellt den Weg und blockiert den Aufgang zur Ausstellung ins Obergeschoß. Beim Blick ins Innere der Box öffnet sich eine grau-silbern und weiß schimmernde Fläche. Unterstützt vom Titel der Installation Fließend, denkt man unmittelbar an Wasser, an die Weite eines nebelverhangenen Meeres. „Malen war für Emil Nolde ein Lebenselixier.

 

Es ist kaum vorstellbar, wie sich Nolde gefühlt haben muß, als ihm das Malen 1941 verboten wurde“, sagt Valentina Torrado. „Mein Lebenselixier ist das Meer, deswegen habe ich es als zentrales Motiv für diese Rauminstallation gewählt.“ „Am Meer komme ich zur Ruhe“, so Torrado weiter, „am Meer kann ich neue Kraft schöpfen.“ Wie das Meer für Torrado, ist für Nolde das Malen eine Quelle der Kraft: das heimliche Arbeiten an seinen „Ungemalten Bilder“ ermöglichte es Nolde, seine Ächtung durch die Nazi-Diktatur und das Malverbot zu ertragen.

 

Torrado stellt mit ihrer Rauminstallation vielschichtige Beziehungen zu Nolde und seinen „Ungemalten Bilder“ her. Dabei ist die Phantasie ein verbindendes Element, die allerdings von beiden Künstlern unterschiedlich definiert wird. Bei Nolde führt die Phantasie in eine romantische, farbenfrohe, kindgleiche Vorstellungswelt, die von fröhlichen Fabelwesen bevölkert wird. Bei Torrado schafft die Phantasie keine fertige Parallelwelt, sondern ist vielmehr ein Prozeß: Phantasie wird als Fähigkeit verstanden, künstlerische Ideen in der Wirklichkeit umzusetzen. Torrados Phantasie, wie sie sich auch in ihrer Rauminstallation Fließend manifestiert, ist die Schnittmenge von Gefühlswelt und Theorie: Die Sehnsucht der Künstlerin nach dem Meer wird eng mit ihrem theoretischen Wissen um Optik und Semiotik verflochten, die für ein Sichtbarmachen dieser Meeres-Sehnsucht notwendig ist. Torrado stellte sich die Frage: „Welche visuellen Anhaltspunkte braucht man, um an das Meer zu denken?“Breite Bänder und gegenstandslose Flächen verschiedener Weißstufungen auf semitransparenten Folien deuten die bewegte Wasseroberfläche des Meeres mit ihren Wellen, ihren Reflexionen und Strömungen an. Die Beleuchtung dieser Oberfläche und deren räumliche Ausdehnung, die durch unsichtbare Spiegelungen ins Endlose ausgeweitet wird, vervollkommnen das Gefühl, am Meer zu sein. Die grenzenlose Weite von Torrados Fließend findet sich auch in Noldes Werkzyklus der „Ungemalten Bilder“: die meisten Figuren und Szenen in diesen kleinformatigen Aquarellen stehen vor einem abstrakten Farbhintergrund – sie können nicht verortet werden. Warum auch, es ist schließlich eine Phantasiewelt. Die dichte Hängung, die in der „Kosmos-Wand“ in Galerie 5 ihren Höhepunkt findet, verdeutlicht ebenfalls, daß es in Noldes Vorstellungswelt keine Grenzen gibt, keine für die sonst in der Wirklichkeit geltenden Orientierungskoordination von links und rechts, vorne und hinten oder oben und unten. Auch die Erfahrung des eigenen Standpunktes und des Raumgefühls, ist ein wichtiger Aspekt in Torrados Installation: Um die Wirkung der Grenzenlosigkeit im Inneren erfahren zu können, muß der Besucher seinen Kopf in die Box stecken. Da er die Welt außerhalb der Box nicht mehr wahrnehmen kann, beschleicht ihn das Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Wird sich Nolde nicht ähnlich gefühlt haben, als er durch die Nazi-Herrschaft geächtet und ihm Malverbot erteilt wurde?

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